

Dein Gehirn ist gar nicht kaputt - es hat nur ein anderes Betriebssystem
23:47 Uhr.
Du sitzt vor deinem Laptop und starrst auf die To-Do-Liste, die du heute Morgen um 6:30 Uhr voller Optimismus geschrieben hast.
Von 12 Punkten hast du genau einen einzigen erledigt – und das war „Kaffee machen“.
Dafür hast du spontan eine komplette Website-Struktur für ein Projekt entwickelt, das erst in drei Monaten dran wäre. Hast zwei Stunden lang alles über mittelalterliche Burgarchitektur recherchiert (warum auch immer). Und drei verschiedene Produktivitäts-Apps heruntergeladen, konfiguriert und wieder gelöscht.
Und jetzt sitzt du da, mit diesem vertrauten Gefühl im Bauch. Diesem Mix aus Frustration, Erschöpfung und dieser nagenden Frage: „Was ist eigentlich falsch mit mir?“
Ganz ehrlich? Gar nichts.
Die Lüge vom „normalen“ Gehirn
Lass mich dir eine Geschichte erzählen.
Stell dir vor, du bist dein ganzes Leben lang mit einem Mac durchs Leben gegangen. Funktioniert super für dich. Du kennst alle Shortcuts, verstehst die Logik, kommst gut klar.
Jetzt kommt die Gesellschaft und sagt: „Sorry, aber hier läuft alles auf Windows. Und wenn Windows für dich nicht funktioniert, dann liegt das Problem eindeutig bei dir. Versuch’s mal mit mehr Disziplin. Oder steh früher auf. Oder hab einfach mehr Willenskraft.“
Absurd, oder?
Genau das passiert jeden Tag mit ADHS*-Gehirnen.
Die Welt ist für ein bestimmtes neurobiologisches Betriebssystem optimiert – und wenn deins anders funktioniert, wird dir suggeriert, du müsstest härter arbeiten, disziplinierter sein, dich mehr anstrengen, um dich an dieses andere Betriebssystem anzupassen.
Aber hier ist die Wahrheit:
Dein Gehirn ist nicht kaputt.
Es ist nicht defekt.
Es ist nicht faul oder undiszipliniert oder schwach.
Es funktioniert einfach anders. Und: Unser Betriebssystem kann super neben anderen Systemen funktionieren, wenn man uns einfach machen lässt und respektiert, dass man uns nicht „passend machen“ kann.
Was in deinem Gehirn wirklich passiert
Wissenschaftlich ausgedrückt: Dein ADHD* -Gehirn hat etwa 30-40% weniger Dopamin zur Verfügung als neurotypische Gehirne – besonders wenn es um Belohnungsverarbeitung geht.
In nicht-wissenschaftlich ausgedrückt: Dein Gehirn ist ein sehr wählerischer Gourmet, der nur bei richtig interessanten Gerichten aus der Reserve kommt.
„Steuererklärung machen“? – Nope.
„Website überarbeiten, obwohl du eigentlich den Quartalsbericht schreiben solltest“? – Hell yes, alle Neuronen an Deck!
Das ist keine Charakterschwäche. Das ist Neurochemie.
Dazu kommt, dass bei ADHD bestimmte Executive Functions – also die Gehirnfunktionen, die für Planung, Organisation, Arbeitsgedächtnis und Impulskontrolle zuständig sind – anders arbeiten. Nicht schlechter. nur einfach Anders. Und unsere Gehrine kann man nicht einfach „umprogrammieren“.
Ein Beispiel aus dem echten Leben:
Du sitzt an deinem Schreibtisch. Vor dir liegt ein Projekt, das du seit Wochen vor dir herschiebst. Du WEISST, dass es wichtig ist. Du WILLST es machen. Aber jedes Mal, wenn du anfangen willst, fühlt es sich an, als würdest du versuchen, durch Honig zu schwimmen. Dein Gehirn findet einfach nicht den Startknopf.
(Das Thema habe ich gerade heute – während ich hier schreibe mit meiner Steuerklärung – gestern war Deadline)
Gleichzeitig kannst du – wenn dich etwas interessiert – stundenlang in einem Flow versinken, ohne zu merken, dass du weder gegessen noch Wasser getrunken hast. Dieser Zustand heißt Hyperfokus, und er ist gleichzeitig deine Superkraft aber auch dein größtes Risiko.
Warum der 5am Club dich nicht rettet (und dich stattdessen fertig macht)
Fast die Hälfte aller Menschen mit ADHD (ADHS) sind natürliche Abendtypen. Ihr Gehirn kommt erst richtig in Fahrt, wenn andere schon im Bett liegen. Das ist keine Faulheit. Das ist keine schlechte Angewohnheit. Das ist dein Chronotyp – dein biologischer Rhythmus.
Aber die Self-Help-Industrie verkauft dir seit Jahren die Story vom frühen Aufstehen als Universallösung. „Successful people get up at 5am!“ „The early bird catches the worm!“ „Miracle Morning!“
Und du? Du quälst dich aus dem Bett, fühlst dich wie ein Zombie, kämpfst dich durch den Vormittag, und bist um 15 Uhr endlich mal richtig wach – nur um dann das Gefühl zu haben, dass der Tag schon gelaufen ist.
Das ist nicht deine Schuld. Das ist neurobiologische Inkompatibilität.
Ein ADHD-Gehirn, das gegen seinen Chronotyp arbeitet, ist wie ein Nachtzug, der gezwungen wird, um 6 Uhr morgens Höchstleistung zu bringen. Theoretisch möglich. Praktisch Selbstsabotage.
Die drei großen Mythen, die komplett daneben liegen
Mythos 1: „Du musst einfach mehr Willenskraft haben.“
Willenskraft ist eine endliche Ressource – bei allen Menschen. Bei ADHS-Gehirnen ist der Tank einfach kleiner. Und weißt du was? Das ist okay. Die Lösung ist nicht, mehr Willenskraft zu entwickeln (als ob das überhaupt funktionieren würde…). Die Lösung ist, Systeme zu bauen, die keine Willenskraft brauchen.
Mythos 2: „Wenn es dir wichtig wäre, würdest du es einfach machen.“
Ah ja, der Klassiker. Der impliziert, dass du nur prokrastinierst, weil dir dein Business egal ist. Bullshit. ADHD-Gehirne können die Wichtigkeit einer Aufgabe kognitiv verstehen, ohne dass das Gehirn die neurochemische Motivation bereitstellt, sie anzufangen.
Du kannst gleichzeitig wissen, dass etwas existenziell wichtig ist UND absolut nicht in der Lage sein, damit anzufangen. Das nennt sich nicht Faulheit. Das nennt sich Task Initiation Deficit.
Mythos 3: „Du musst einfach eine bessere Routine entwickeln.“
Starre Routinen sind für ADHD-Gehirne das, was Zwangsjacken für Bewegung sind: kontraproduktiv. ADHD-Gehirne HASSEN Monotonie. Sie brauchen Variation, Neuheit, Flexibilität. Eine Morgenroutine, die jeden Tag exakt gleich abläuft? Garantiertes Scheitern nach spätestens einer Woche.
Was stattdessen funktioniert: Die drei Säulen des ADHD-Erfolgs
Okay, genug mit den Mythen. Lass uns darüber reden, was tatsächlich funktioniert.
Säule 1: Neurobiologisches Alignment
Das bedeutet: Arbeite MIT deinem Gehirn, nicht dagegen.
Wenn dein Gehirn Dopamin braucht, um anzufangen – dann bau Dopamin ein. Nicht nur als „Belohnung nach getaner Arbeit“, sondern als integralen Bestandteil der Arbeit selbst.
Ein Beispiel: Du hasst Buchhaltung. Dein Gehirn findet null Dopamin in Excel-Tabellen. Also machst du Buchhaltung mit Body Doubling (dazu später mehr) ODER du koppelst sie mit etwas, das dein Gehirn mag – Lieblings-Playlist, spezieller Kaffee, coworking im Lieblingscafé.
Es geht nicht darum, die Aufgabe zu ändern. Es geht darum, den Kontext so zu gestalten, dass dein Gehirn mitspielen will.
Säule 2: Flexible Konsistenz
Das klingt wie ein Widerspruch, ist es aber nicht.
Starre Routine: „Jeden Tag um 7 Uhr 30 Minuten meditieren.“
Flexible Konsistenz: „Nach dem Kaffee 5-15 Minuten etwas tun, das mich zentriert – Meditation, Musik, Spaziergang, Journaling.“
Die Ankerpunkte bleiben gleich (nach dem Kaffee), aber der Inhalt darf variieren. Das gibt deinem Gehirn die Neuheit, die es braucht, ohne die Struktur zu verlieren.
Ich nenne das das Flexible Anchor System. Feste Orientierungspunkte mit beweglichen Zwischenstücken. Wie ein Gerüst, in dem du dich frei bewegen kannst, statt ein Käfig, der dich einsperrt.
Säule 3: Dopamin-Engineering
Hier wird’s interessant. Dopamin-Engineering bedeutet nicht „zuckere alles zu“ oder „scroll Instagram als Belohnung“. Es bedeutet: Verstehe die Dopamin-Mechanismen und nutze sie strategisch.
Sofortige Mikro-Belohnungen funktionieren bei ADHD-Gehirnen besser als große, ferne Ziele. Nicht „In 6 Monaten ist das Projekt fertig“ (neurochemisch irrelevant), sondern „Nach diesem 15-Minuten-Sprint gibt’s den guten Kaffee“ (neurochemisch aktivierend).
Gamification ist kein alberner Trick – es ist angewandte Neurowissenschaft. Punkte sammeln, Level aufsteigen, Streaks halten – das sind externe Dopamin-Generatoren, die dein Gehirn andocken kann.
Progress-Visualisierung macht abstrakte Fortschritte konkret sichtbar. ADHD-Gehirne brauchen SICHTBARE Erfolge. Ein Habit-Tracker mit bunten Häkchen ist nicht Spielerei – es ist Neurologie.
Die unbequeme Wahrheit über „Erfolg“ mit ADHD
Hier ist etwas, das dir niemand sagt: 29% aller Unternehmer*innen haben ADHS. Im Vergleich zu 4,4% der Gesamtbevölkerung.
Das ist kein Zufall.
Richard Branson, Barbara Corcoran, David Neeleman – sie alle haben ADHD. Und sie sind nicht erfolgreich trotz ihres ADHD. Sie sind erfolgreich wegen ihres ADHD – weil sie gelernt haben, mit ihrem Betriebssystem zu arbeiten statt dagegen.
ADHD-Gehirne können:
- In kürzester Zeit gigantische Informationsmengen verarbeiten
- Muster sehen, die andere übersehen
- In Hyperfokus-Zuständen monatelange Arbeit in Tagen erledigen
- Outside-the-box denken, weil ihre Box sowieso anders aussieht
- Mit Chaos und Unsicherheit umgehen, weil ihr Gehirn darin lebt
Aber – und das ist wichtig:
Viele nennen das Superpower.
Diese Superkräfte funktionieren aber nur, wenn du aufhörst zu versuchen, ein neurotypisches Gehirn zu simulieren.
Wenn du aufhörst, dich für deine Art zu arbeiten zu schämen.
Wenn du Systeme baust, die FÜR dich funktionieren, nicht gegen dich.
Wenn du dich im Auge behälst, damit du nicht mit 1000 Idenn und Hyperfokus für eine Woche anschließend im Meltdown landest, aus dem du unter Umständen wochenlang nicht mehr rauskommst.
Selfawareness steht also bitte ganz oben auf deiner Liste.
Was das konkret bedeutet
Es bedeutet nicht, dass du dir irgendwo eine Liste mir „10 ADHD-Hacks“ angeln kannst, die all dein Probleme löst. Es gibt keinen Quick-Fix, obwohl auch ich mir den manchmal gewünscht hätte.
Was es erstmal braucht ist ein fundamentaler Mindset-Shift:
Von „Was ist falsch mit mir?“
Zu „Was braucht MEIN Gehirn?“
Von „Ich muss disziplinierter werden“
Zu „Ich muss Systeme bauen, die keine Disziplin brauchen“
Von „Warum kann ich nicht einfach…“
Zu „Wie kann ich das so gestalten, dass es für mein Gehirn funktioniert?“
Der erste Schritt
Wenn du nur eine Sache aus diesem Artikel mitnimmst, dann diese:
Dein ADHD-Gehirn ist nicht kaputt.
Es braucht nur andere Werkzeuge. Andere Systeme. Andere Strategien.
Und die Gute Nachricht? Die gibt es. Evidenzbasiert, community-erprobt, wissenschaftlich fundiert.
Im nächsten Artikel zeige ich dir, wie erfolgreiche ADHS-Unternehmer*innen wirklich arbeiten.
Welche konkreten Systeme funktionieren. Welche Tools den Unterschied machen.
Und wie du dein eigenes ADHD-freundliches Business-System aufbaust – Schritt für Schritt, ohne Überforderung, mit Raum für Experimente.
Aber zuerst: Gib dir selbst die Erlaubnis, damit aufzuhören, ein neurotypisches Gehirn sein zu wollen. Das schaffst du nie.
Du bist keins. Und das ist nicht nur okay – das ist deine größte Stärke.
Im nächsten Teil: „Wie erfolgreiche ADHS-Unternehmer*innen wirklich arbeiten – Systeme, Tools und der 12-Wochen-Fahrplan
Quellen & Weiterführendes
Die Informationen in diesem Artikel basieren auf aktueller ADHD-Forschung zu Dopamin-Dysregulation, Executive Functions und Chronotypen bei ADHD. Wissenschaftliche Quellen und weiterführende Literatur findest du u.a. bei ADDitude Magazine, CHADD, ADDA und in aktuellen Studien auf PubMed Central.
*„ADHS ist die deutsche Abkürzung, ADHD die internationale. Ich nutze beide – weil viele von uns beide Sprachen im Kopf haben.
Du findest hier kein Kommentarfeld.
Wenn du mir etwas zu meinen Geschichte sagen möchtest oder eine Frage hast, dann schreib mir direkt.
Ich freue mich über ehrliche Nachrichten.
XOXOXO
Conny